7. Oktober 2009

der neue tagesanzeiger ist eine enttäuschung


beim ersten durchblättern fand ich: der neue tagi ist eine enttäuschung. nach gut einer woche finde ich: der neue tagi ist eine enttäuschung.

im vergleich zu den erwartungen, die der verlag weitgehend selber hochgeschraubt hat, ist das resultat nicht nur mager, sondern stellenweise irritierend.

fangen wir vorne und oben an: der zeitungskopf wurde auseinandergerissen. das datum, die preise und die anderen verlagsangaben stehen jetzt links neben den teasern. damit wurde erstens die alleinstellung des zeitungskopfs aufgegeben, um zweitens mehr weissraum um die inserate zu schaffen. ob das für die glaubwürdigkeit eines qualitätsbrands gut ist, möchte ich bezweifeln.


der zeitungskopf ist auch typografisch nur suboptimal gelöst. die baseline ("die unabhängige ...") unter dem titel hängt seltsam verloren in der luft. das inserat auf der rechten seite ist in der 6. spalte linksbündig angeschlagen und hinterlässt damit in der rechten oberen ecke das gewisse nichts. der zeitungstitel ist zwischen den beiden inseraten nicht ganz in der mitte – vorher war er das. die seltsame platzierung dieser elemente stiften viel unruhe.

der kommentar wurde von der front auf die 2 verschoben. ein schock. warum das denn? wollte man nicht mehr analyse und einschätzung? und ist der platz auf der 2 ganz oben wirklich der richtige platz? wäre – wenn schon – die 3 als aufschlagseite (beim blättern sieht man zuerst die 3 und dann erst die 2) nicht viel besser gewesen? und: das kurzfutter in der freigewordenen spalte sorgt weder für tiefgang noch für unentbehrliche orientierung, sie macht die titelseite eher unruhig. kurz und gut: die verschiebung des kommentars nach hinten ist ein schritt in die falsche richtung.

die titelseite sieht jeden tag anders aus:


absicht oder unausgereiftes konzept? gewiss, ein redesign ist nicht am ersten erscheinungstag in stein gemeisselt, da kann in den ersten tagen durchaus eine feinjustierung vorgenommen werden. aber gleich jeden tag eine komplett andere titelseite? falls das wirklich als "ausprobieren" gedacht ist – bei mir kommt es irritierend an, irgendwie werd ich das gefühl nicht los, dass sie nicht wissen, was sie wollen.

es mag haarspalterisch sein, aber auch folgendes beispiel deutet auf ein unausgereiftes konzept hin:


am ersten tag erschien das blatt mit einem fettgedruckten und hässlichen datum, ab dem zweiten tag dann mit einer mageren schrift. solche typografischen details werden normalerweise in der konzeptphase geprüft und gelöst.

die typografie ist zu vorher ganz allgemein eine verschlimmbesserung. die titel werden fast überall an die obere begrenzungslinie angeschlagen, darunter viel weissraum und dann erst folgt der text. der titel ist näher am oberen text als am unteren, den er eigentlich betrifft. dieser seltsame umgang mit weissräumen ist doch etwas sehr geschmäcklerisch, einer sinnvollen leserführung dient er jedenfalls nicht, im gegenteil, er irritiert und ignoriert die sehgewohnheiten der leser.


strehle tut das in einem interview als geschmacksfrage ab und betont im interview bei roger schawinski (ab minute 45), das neue layout sei von zwei schweizer profis (alarm) gemacht worden und habe in der branche viel lob erhalten. wo bitteschön fand dieses lob statt? in privaten gesprächen mit befreundeten grafikern? unglaubwürdig.

meine vermutung: man will auf biegen und brechen anders sein als alle anderen und darum macht man es so, wie man es eigentlich nicht machen sollte. dass grafiker bisweilen sämtliche regeln der leseführung über bord werfen, nur um sich von anderen druckerzeugnissen abzuheben, ist nichts neues. dass ein verlag wie die tamedia darauf reinfällt aber schon.

auch die neue autorenzeile muss mit solchen eitelkeiten zu tun haben. war sie früher alleingestellt und gab dem autor ein gewisses gewicht, ...


... ist sie heute an den text angeklebt und sieht aus wie ein zwischentitel.


schön ist das nicht und logisch auch nicht.

dann hat es da auf gewissen seiten diese pastelligen balken, heute z.b. auf der seite 3 in zartrosa:


manchmal kommen diese balken, manchmal nicht. schaut man genauer nach, finden sie sich jeweils auf seite 2 und/oder 3 eines bundes. aber eben nicht täglich und nicht in jedem bund. was wollen sie uns sagen? spezialthema? meinungsseite? exklusiv? aaahhh... bei noch genauerem hinsehen kommt man der sache näher, es könnte sich um ein schwerpunktthema handeln und alles unter dem pastelligen balken gehört dazu. eine orientierungshilfe also. möglich, dass das andere leute sofort gemerkt haben. aber auch dieses detail hätte man besser lösen können.

soweit einige bemerkungen zur form. und der inhalt?

ich hätte mir gewünscht, dass sie die unsägliche rubrik "jetcetera" ersatzlos streichen. erstaunlich, dass das nicht geschehen ist. interessiert es den aufgeklärten qualitätszeitungsleser wirklich, mit wem weltfremde stars gerade rummachen oder wo sie gerade kinder shoppen?

und sonst? ja, es hat gefühlt etwas mehr längere texte und etwas mehr schwerpunkte. auf gute und grössere bilder wird sichtlich mehr wert gelegt. das tv programm scheint etwas "seriöser" geworden zu sein.– ansonsten ist alles beim alten. gefühlt.

was gänzlich fehlt ist eine art anbindung ans internet. die gedruckte zeitung tut so, als gäbe es sie online gar nicht. und umgekehrt. das finde ich ziemlich bedenklich.

unschön an diesem relaunch ist auch dies: tagi online wollte am ersten tag von den lesern wissen, wie der neue tagi gefällt. man konnte abstimmen und kommentieren. die kommentare sprudelten bis zur nr. 88, die meisten negativ – dann wurden sie gelöscht. das ist im hause tamedia nichts neues). die abstimmung steht da zwar noch, aber das resultat wird nicht mehr angezeigt. höseler, elende. so sagen wir solchen vorgängen im bernbiet.

insbesondere dann, wenn man den relaunch mit solchen inseraten begleitet und grossspurig interesse an der lesermeinung ins land trompetet:


in der talksendung doppelpunkt behauptete roger schawinski, 90% der onlinekommentare zum neuen tagi seien negativ gewesen und dann fragte er den tagi-co-chefredaktor res strehle, wie er mit dieser massiven kritik leben könne. seine antwort (ab minute 39) ist sehr erstaunlich – im wortlaut:

"die reaktionen im internet... ähm... sind... ähm... muss man relativieren... ähm... da ist eine gewisse bloggerszene, die vieles runtermacht... ähm... da bin ich nicht so beunruhigt...".

obwohl sich bisher kaum eine hand voll blogger mit dem tagi redesign überhaupt beschäftigt haben (dieser blogpost ist meines wissens der erste längere), sollen ausgerechnet die blogger all die miesen kommentare in die tagi website geschrieben haben. das ist lächerlich und inkompetent. herr strehle hat offensichtlich wenig ahnung, wer bei ihm online kommentiert, denn blogger sind es definitiv nicht. überhaupt: man höre sich dieses interview an und es behaupte noch jemand, da verbiege sich einer nicht bis zur unkenntlichkeit. es ist ein jammer.

fazit: der neue tagi ist eine riesige enttäuschung.
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5 Kommentare:

  1. Der Tagi taumelt von einem Schwächeanfall zum nächsten...

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  2. Chapeau, sehr tolle Analyse. Hatte ja letzthin das Pitch-Design von iA auf dem Blog. Das hätte mir viel besser gefallen: http://dworni.ch/post/201057992/tagi-redesign-das-von-ia-vorgeschlagene-redesign

    Ein spannendes Thema. Du hast ein gutes Auge, ich kann dir in allen Punkten als Grafiker beipflichten. Das (Un)Ding muss ich mir mal näher anschauen.

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  3. Zum Design später. Weil: Der Inhalt interessiert mich mehr - ich will eine Zeitung vor allem LESEN und nicht ANGUCKEN.

    Inhalt:

    Ich finde den ersten Bund besser als vorher. Zum Teil gefällt er mir ausgesprochen gut und kostet mich eine ganze Menge Lesezeit, vor allem wegen der Hintergrundberichte.

    Was ich auf der ersten Seite schmerzlich vermisse: Den Schaad. Wo sind seine Zeichnungen hingekommen? Oft hat bei mir der Tag mit einem Lachen angefangen - wegen der Karrikatur.

    Der Kulturteil ist durchzogen. Von sackstark bis sackschlecht gab es die vergangene Woche alles. Klar erkennbar ist aber der Wille, sich tiefer mit gewissen Themen auseinanderzusetzen. Und weil ich Tiefe mag, bekommt der Kulturteil von mir - trotz der unerträglich seichten Texte von S. Meier - einen Pluspunkt für Verbesserung.

    Auch im Wirtschaftsteil glaube ich Ansätze zu einer Vertiefung zu erkennen. Der Sport scheint mir Sportbanausin ziemlich gleich geblieben zu sein, ausser dass er jetzt hinten im Bund anfängt.

    Mein erstes Fazit: Inhaltlich finde ich, dass sich der Tagi auf dem Weg zur Besserung befindet, allerdings stolpert er regelmässig über seine eigenen Füsse oder "vertschlipft" im Boulevard-Sumpf.

    Zum Design:

    Der Zeitungskopf ist zum Brüllen schlecht. Meine Lokalzeitung presst ihren Kopf auch zwischen zwei Kleinanzeigen, löst das aber wesentlich eleganter als der Tagi. Da stimmt einfach nichts, das sieht nach einem gewaltigen Gewürge aus.

    Der Kommentar: Der gehört auf die erste Seite. Aus ganz vielen Gründen. Vor allem aber, weil die Kommentare einer Zeitung ihren Charakter ausmachen. Und den versteckt man nicht ganz rechts auf der rechten Seite, wo normalerweise kein Mensch hinguckt. Das sieht aus, als wolle man sich verstecken.

    Die Titelseite: Die Karrikatur fehlt. Der grässliche Werbebalken unten (wohl nicht jeden Tag gebucht und auch nicht von der immer gleichen Firma gebucht) stört genauso wie die Inserate im Zeitungskopf. So bestimmt zu einem grossen Teil die Werbung über das Aussehen der Zeitung. Eine Bankrotterklärung (oder der Abstieg auf Lokalblattdimension). Eine einheitliche Aufteilung in Bezug auf die Fotos wäre eine Orientierungshilfe und würde der Zeitung Wiedererkennungscharakter geben.

    Typographie: Na ja, da war man halt mal wieder krampfhaft originell (man isst ja scheint's neuerdings auch Hamburger mit Goldplättchen drin). Die am Balken angepappten Titel sind grässlich. Die Schriften stören mich nicht unbedingt. Ich frage mich aber, wer so etwas "verbricht". Erinnert mich an das Filmmagazin, das ich abonniert hatte; die Schriftgrösse überstieg die geschätzten 7 bis 8 Punkte nur in den Titeln, was die Zeitschrift für mich unleserlich machte. Aber sah halt "cool" und "anders" aus.

    Ganz schlecht fand ich die gross angekündigte Möglichkeit zur Reklamation. Mir stieg der Herzschlag für einen Moment aus, denn selbst eine Banausin wie ich weiss, dass so was jenseitig ist. Wer ist schon so doof, das Wort "Reklamation" am gleichen Tag wie "juhi, wir sind endlich neu, schöner und besser" sooooooo gross und prominent in die Zeitung zu setzen?

    Zur Aussage zu den Bloggern: Langsam nerven mich die Typen mit ihrer a) Arroganz gegenüber den Bloggern und b) ihrer Ignoranz im Bezug auf das Bloggen. So machen es sich diese Leute sehr, sehr, sehr einfach.

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  4. OK, dann geb ich auch noch meinen Senf dazu.

    Zeitungskopf: Ist schlimm, ja, aber war schon vorher so. Die Weissfläche rechts ist für das Aufdrucken von Adressen notwendig.

    Kommentar auf Seite 2: Find ich ok. Es wird ja auf der Front deutlich darauf verwiesen (und zudem zu weiteren Kommentaren auf der Analyse-Seite). Dafür hat die Front mehr Platz für grosszügige Bilder.

    Anordnung auf der Front: Finde ich toll, jeden Tag was anderes, nicht so stier.

    Werbung auf der Front: unten ok, dort stört es mich nicht, im Kopf aber sehr.

    Typografie: Mir hat die alte auch eher besser gefallen, aber sie ist ok. Das Gstürm darüber finde ich übertrieben.

    Anbindung ans Internet: Gibt es doch, auf Seite 2. Das ist mehr als genug. Ich wäre eher für eine Trennung von Print und Internet, auch markenstrategisch.

    Dialog mit Leserschaft: Wurde schlecht gemacht. Als Show inszeniert, ohne dann auf die Rückmeldungen einzugehen.

    Ausrichtung auf mehr Hintergrundberichte und Fokussierung auf einzelne Themen: Finde ich eindeutig die richtige Richtung. Auch, dass Themen abseits des Tagesgeschehens zuoberst auf der Frontseite landen. Für Newshäppchen ohne Zusammenhang habe ich das Internet, dafür brauch ich keine Tageszeitung.

    Karikaturen: Schaad ist wirklich toll. Ob auf der Front oder im Bund ist mir relativ egal. Sollte er aber weniger häufig zum Einsatz kommen, wäre das ein grosser Verlust.

    Strehles Blogger-Kommentar: Dazu ist alles gesagt. Ignorant ist der passende Ausdruck.

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  5. Korrektur und Entschuldigung an meine Lokalzeitung: Der Kopf ist frei. Die zwei Inserate finden sich links und rechts im Balken darunter (wenn beide Inserateflächen verkauft sind).

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