1. April 2010

kein aprilscherz: der verlegerblues


zeitungsverleger haben es momentan gar nicht leicht. ihr altes und einstmals lukratives geschäftsmodell bricht langsam weg, ein neues ist aber noch nicht erfunden. die ratlosigkeit und verzweiflung ist entsprechend gross und nicht mehr zu übersehen.

andrea masüger, publizistischer direktor der südostschweiz mediengruppe, wird momentan nicht nur von roger schawinski drangsaliert, sondern auch noch vom internet. er steigt beim medienspiegel folgendermassen in den aktuellen verlegerblues ein:

"Ich habe mir in letzter Zeit die Mühe genommen, die ins Kraut schiessenden Studien, Aufsätze, Betrachtungen und Analysen zur Zukunft der Zeitungen bzw. des publizierten Wortes ein bisschen näher anzuschauen. Es ist entsetzlich, welcher schönklingende Müll uns da entgegenschwappt."

merkwürdig ist schon mal das "in letzter zeit die mühe genommen". müssen wir daraus folgern, dass herr masüger sich wirklich erst in letzter zeit mit dem netz beschäftigt hat? und warum ist die beschäftigung mit dem grössten strukturwandel in seiner branche für einen chefpublizisten eine mühe? sollte das nicht eher eine leidenschaftliche herausforderung sein?

mit studien war es ja schon immer so eine sache und mit web 2.0 studien erst recht, da haben halt erst wenige experten einen überblick. man wird aber den verdacht nicht los, dass herr masüger neben aufsätze lesen und "ein bisschen" studien anschauen nicht viel mehr unternommen hat. vor allem das wichtigste nicht, nämlich das web 2.0 selber anfassen und ausprobieren.

hätte er das getan, würde er seinen aufsatz kaum mit dem unmöglichen titel "gratis wird endlich out" versehen und auch nicht von "nutzlosen theorien" schreiben. gratis-content ist für eine ganze generation nichts anderes als praktizierte realität (nicht nur in den tauschbörsen, sondern z.b. auch  bei wikipedia) und wird in zukunft für neue geschäftsmodelle eine grosse bedeutung haben. wer diese unübersehbare und nicht aufzuhaltende entwicklung in dieser weise negiert, hat irgendwie seine hausaufgaben nicht gemacht.

herr masüger macht sich auch sorgen um die zukunft des publizierten wortes. dabei verkennt er nicht nur, dass noch nie so viele worte publiziert worden sind wie jetzt gerade im internet, die meisten davon erst noch gratis (allein ca. 10 mio. artikel bei wikipedia). er übersieht darüberhinaus in seiner funktion als chefpublizist, dass medienhäuser in zukunft nicht mehr nur worte, sondern inhalte in einem weiteren sinn publizieren werden, also auch video und audio, und, oh schreck, user generated content.

chefpublizist masüger moniert ferner das fehlen eines geeigneten bezahlstandards für seine online-zeitungen. da hat er ja sicher nicht unrecht, ein solcher ist momentan nicht in sicht. allerdings muss man dieses manko zunächst als versagen der verleger selbst bewerten – wer sonst soll sich sonst darum kümmern? – und nicht einfach dem bösen internet in die schuhe schieben. es ist ja eine realsatire der ganz besonderen art, dass flattr, eines der derzeit meistdiskutierten bezahl-modelle für kontent produzenten, ausgerechnet von pirate-bay-mitgründer peter sunde erfunden worden ist. könnte es sein, dass herr masüger & co. ganz einfach den falschen beratern zuhören?

einer von chefpublizist masüger's leidensgenossen ist norbert neininger, verleger und chefredaktor der schaffhauser nachrichten, die sich allen ernstes als "schaffhauser intelligenzblatt" bezeichnen. er hat das web 2.0 löblicherweise hchst persönlich angefasst – er führt ein blog und twittert.

allerdings ist sein publizistisches blogkonzept auch nach einem ganzen jahr (!) noch etwas arg in der schwebe. es besteht vorwiegend aus hunderten von abfotografierten zeitungsseiten aus der sonntagspresse der letzten 14 monate, die er grösstenteils unkommentiert ins netz stellt. seit einem guten jahr tut er das beharrlich sonntag für sonntag, gut 95% seines blog kontents bestehen aus diesen abfotografierten zeitungsseiten, es sind mittlerweile hunderte. was man als leser damit genau anfangen soll, bleibt unklar. auf entsprechende nachfrage via kommentar reagiert herr neininger nicht und eine kontakt-email-adresse sucht man sowohl in seinem blog wie auch in seinem intelligenzblatt vergebens.

da fehlt mir für einen chefredaktor und verleger doch ein wenig der publizistische ehrgeiz. es ist zwar lobenswert, dass herr neininger es wenigstens probiert hat, aber ein lernprozess hat in diesem jahr bloggen leider (noch) nicht stattgefunden. er hat nicht nur den rückkanal nicht begriffen, sondern er schafft sogar noch einen höchst merkwürdigen haltungsspagat: neiniger gehört als Mitglied des Präsidiums des Verbands der Schweizer Presse, Departement Publizistik zur wir-wollen-geld-von-google-fraktion – selber veröffentlicht er aber in seinem blog hunderte von abfotografierten zeitungsseiten aus fremden verlagen, und zwar mit quasi null eigener schöpfungshöhe.

so weit so schlecht.

man wagt sich gar nicht zu fragen, ob die herren verleger vielleicht eventuell schon mitbekommen haben, was beispielsweise in sachen app's gerade für ein ding am anlaufen ist. ob sie allenfalls selbst ein iphone benutzen und vielleicht schon mal die eine oder andere app ausprobiert haben. eventuell sogar eine dieser neuartigen geo-app's, von denen es auch überall heisst, sie würden alles auf den kopf stellen.

vermutlich haben sie auch das ausgelassen, vermutlich verstehen die verleger auch in sachen app's nur bahnhof. sie sollten sich ein beispiel an den taxifahrern nehmen.

warum führungskräfte mit disruptiven technologien im allgemeinen und mit dem internet im speziellen so viel mühe haben, beschreibt andreas göldi hier bei netzwertig.com, und martin weigert widmet sich dem thema an gleicher stelle anhand einiger aktueller beispiele.
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2 Kommentare:

  1. Mit Datum vom 03.04.2010 ist jetzt seine E-Mail-Adresse als Kommentar drin (neininger ät shn.ch)... (dem TV-Rebellen zu verdanken ;-)

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  2. hehe, das hab ich auch gesehen. ich hab mir noch überlegt, ob ich im verlegerblues #2 das thema aufgreifen soll. ich habs aber gelassen, weil das ding eh schon lang genug war und weil es noch etliche details gäbe, die man kritisch kommentieren könnte.

    die ewiggestrigen bezeichnen ja das internet oft als rechtsfreien raum etc., aber der chefredaktor himself schert sich einen deut um ein ordentliches impressum. das passt doch gut zum google bashing und dann selbst hunderte von abfotografierten zeitungsseiten ins netz stellen. es ist durchs band weg "wasser predigen und wein trinken".

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