22. Juni 2006

Das Heuballenbalett


Tagsüber liegen sie da, fein säuberlich aufgereiht wie die Knochen im Briger Gebeinhaus. Leblos. Stoisch auf die finale Verfütterung wartend, in der grellen Sommersonne dem Ende in einem feuchten und rauhen Kuhschlund entgegen brütend. Für die Pendler, die an dieser Landstrasse rastlos an dieser seltsamen Truppe vorbeibrausen, sind sie ein Aergernis, weil nicht in die Landschaft passend. Ein unverhoffter Blickfang, weil von skulpturaler Ausstrahlung. Eine neuzeitliche Ikone, weil von einer dynamischen Landwirtschaft zeugend. Oder ein Nichts, weil von Ignoranten selbst solch markante neue Bilder noch lange kein Grund für einen neuen Gedanken sind.

So liegen sie also da, tagsüber. Aber nachts, da ist der Bär los. Wenn sich die Dämmerung verzieht am Horizont und die letzten Beizenhocker vorbeigedüst sind, wenn die Venus grosszügig mit ihren Reizen geizt und in den Wäldern rundum die letzten Viecher sich auf Ästen und in Höhlen der Nacht ergeben, wenn niemand da ist ausser dem Mond und der Stille und der schwarzen Nacht, dann beginnt das grosse und geheimnisvolle Heuballenballett.

Träg und zeitlupig kugeln sie sich voneinander ins taunasse Gras, formieren sich zu einem Kreis um den Baum in der Mitte der Matte und warten gelassen auf ihren Einsatz. Erst wenn die Symphonie der Stille mit einer dramatischen Ouvertüre einsetzt und das Tal mit einem lautlosen Crescendo erfüllt, nimmt eine eigentümliche Choreografie ihren Lauf. Der Kreis wird zum Stern, der Stern zum Schweif, der Schweif zur Kolonne, die sich fliessend in kleine Sektionen teilt und von dort in ein grandioses Schlussbouquet gleitet oder schwebt oder rollt.

Die Bäume rundum geniessen diese allnächtliche Darbietung. Es ist ihnen ein kostbares Privileg, an dieser Wiese, die die Welt bedeutet, zu stehen, ein Leben lang, hinten der See und vorne der Traffic, und jetzt, seit ein paar Jahren, Avantgarde pur, direkt vor ihren Stämmen und Wurzeln - was will man da noch ins Theater. Am meisten freut sich freilich der Baum in der Mitte, um den sich das Ganze dreht wie ein Rad um die Achse, das macht ihn stolz und stark und stämmig. Und ganz hinten, die alte Eiche, die Kluge, die würde sich krümmen, wenn sie könnte, vor lauter schelmischer Satisfaktion, weil noch vor der Morgendämmerung die ganze Truppe wieder sauber aufgereiht und aufgebeigt am Strassenrand steht und so tut als ob nichts gewesen wäre.

1 Kommentar:

  1. erinnert auch tagsüber an ein langbett :) (topolino)

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