5. Juni 2009

canonica unter aller kanone

der magazin chefredaktor finn canonica hat zur streichung von mehreren hundert leserkommentaren aus den letzten zwei jahren stellung genommen. bei persönlich.com sagt er vorneweg:

"Wir haben schlicht nicht die Zeit und das Personal, um die Diskussionen auf unserer Webseite zu begleiten."

mit anderen worten: die haben einen dienst eingeführt, für den sie die nötigen personellen ressourcen nicht bereitgestellt hatten. für ein unternehmen wie tamedia ist das ein managementfehler unter aller kanone. wie kann so etwas passieren? im grössten medienhaus der schweiz? meine einschätzung: ignoranz, inkompetenz und beratungsresistenz.

sehr aufschlussreich auch dieser satz:

"Ich persönlich bin skeptisch geworden gegenüber den journalistischen Möglichkeiten im Internet. Das Gerede um die Möglichkeiten des Citizen Journalism begreife ich nicht."

voilà – er begreift es schlichtweg nicht, was die möglichkeiten des journalismus im internet sind. mit anderen worten heisst das: wir haben uns nicht damit befasst, wir haben keine ahnung von nichts, basta. kein wunder also, dass cannonica und seine edelfedern das netz als einschränkung statt als erweiterung ihrer möglichkeiten interpretieren.

das wirklich schlimme an der medienkrise ist, dass sich die medienbranche bisher herzlich wenig mit den möglichkeiten des internets befasst hat. dabei wäre diese branche von ihrem wesen her die erste, die sich damit hätte befassen müssen. seit jahren sprechen die fakten eine klare sprache, seit jahren ist – selbst für den interessierten laien – erkennbar, dass grosse teile des klassischen geschäftsmodells von verlagen wie tamedia ins internet abwandert.

da erstaunt diese aussage des herrn chefredaktors doch sehr:

"Wir sollten uns allmählich Gedanken machen, ob es klug ist, qualitativ hochstehende Inhalte kostenlos anzubieten."

allmählich? ich hab schon immer gesagt: die zürcher sind die besseren berner. wenn sich aber herr canonica und seine tamedia erst jetzt und erst allmählich gedanken dazu machen, dann sehe ich schwarz. 2007 alle inhalte ins netz stellen und sich 2009 allmählich gedanken dazu machen – wie schräg ist das denn?

wer das netz begreifen will, muss es benutzen. wer wie finn canonica seinen twitter account schon nach wenigen wochen wieder hinschmeisst und nicht mal den ehrgeiz hat, das ding richtig aufzusetzen (z.b. mit einem link zur eigenen seite), hat null chancen, twitter auch nur ansatzweise zu begreifen. wer nicht selber bloggt oder zumindest intensiv in blogs mitliest, wird nie kapieren, wie das mit links und trackbacks und rankings etcpp. wirklich läuft.

soweit so schlecht. die paranoide komplettverweigerung der medienbranche gegenüber den möglichkeiten des internets ist ein sehr seltsames phänomen, irgendwie absurd.

aber neben der internetkompetenz ist bei cannonica noch eine andere tugend – ohne die es im netz auch nicht geht – total abwesend: anstand. cannonica hat einige hundert leserkommentare und eine unbekannte anzahl leseraccounts einfach ausgeknipst. kein wort dazu auf der website, kein mail zur information an die inhaber der accounts. arroganter gehts nun wirklich nicht mehr. und dann die kommentatoren auch noch mit diesem satz in die pfanne zu hauen, ist unter aller sau:

"Kommentare zu Artikeln auf dem Web sind manchmal sehr "dahingerotzt", oft wird gar nicht auf den Artikel eingegangen."

kein wort davon, dass es auf der tagimagi website neben den wenigen solchen kommentaren (die es überall gibt) mehrheitlich beiträge hatte, die von engagierten lesern ernsthaft und mit einigem zeitaufwand gepostet wurden. die qualität der postings war eindeutig überdurchschnittlich. alle diese kunden haut er jetzt einfach mal in die rotzpfanne. ähnlich arrogant ist er schon im februar 2008 aufgetreten, als er die sog. leserbeteiligung auf die gleiche weise ausknipste. wer da mehr rotzt, canonica oder seine leser, möge jeder für sich entscheiden.

ich jednefalls wette eine kiste edelzwicker, dass solche journalisten und verleger in spätestens 5 jahren in der bedeutungslosigkeit verschwunden sein werden. arroganz und fachliche inkompetenz sind keine grundlage, um im neuen medienzeitalter zu überleben.

+ + + + +

siehe auch den beitrag beim medienspiegel.
.

6 Kommentare:

  1. Rotzfrech, in der Tat. Ich würde behaupten, "Heise.de" wäre nach einer solch konsequenten Löschaktion klinisch tot. Gibt es dazu im deutschsprachigen Internet überhaupt einen vergleichbaren Präzedenzfall? Mal abgesehen von gänzlich eingestanzten Projekten wie "Zoomer.de"?

    AntwortenLöschen
  2. Herr Cannonica:

    Ich war einer der regelmässigen TA-Magazin-Kommentatoren. Meine Beiträge, und das sage ich nicht, weil es meine waren, hatten ein hohes Niveau. Dies schliesse ich aus den Zusprüchen anderer Kommentatoren.

    Ich lieferte Ihnen detaillierte Tipps, wie Sie das Magazin verbessern können. Ja, wie ich gesehen habe, lieferte einer meiner früheren Kommentare sogar die Denkvorlage für die Kolumne eines Ihrer Kolumnisten in der aktuellen Ausgabe.

    Die unangekündigte Löschung aller Kommentare ist bedauerlich. Wenn es nur um den Kostenfaktor der Moderation gegangen wäre, hätten Sie stattdessen auch die bereits veröffentlichten Kommentare stehen lassen können und einfach die Kommentarfunktion aller Beiträge abschalten. Vermutlich waren die Kosten aber eher ein willkommener Vorwand, sich so der Leserkritik zu entziehen. In der irrigen Annahme, es handle sich bei Kritiken um etwas Negatives.

    Sie sind übrigens nicht der Einzige, der Mühe hat mit der Umstellung von einem unidirektionalen zu einem bidirektionalen Medium. Vielen Bloggern geht es ähnlich. Aber mit der Zeit lernt man, mit Kritik offener und lockerer umzugehen. Denn Kritiker investieren viel Herzblut in ihre Kritiken und sie leisten dadurch einen wertvollen Diskussionsbeitrag - gratis.

    Der Feind der Medien ist nicht der Kritiker. Der Feind ist derjenige, der sich nicht für die Medien interessiert.

    Ich wünsche Ihnen viel Herzblut und einen kühleren Kopf.

    AntwortenLöschen
  3. Hm, es gibt eben immer noch Redaktionen und Journalisten, die nicht gemerkt haben, dass sie in der Web 2.0 Welt vom hohen Thron geholt werden. Wer keine Qualität liefert, wird öffentlich korrigiert und das passt halt vielen nicht.

    Letztes Beispiel: Die Zeit Online berichtete vom Air France Absturz mit einem Bild eines A380 (!). Solches bezeichne ich als journalistischen Pfusch.

    AntwortenLöschen
  4. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

    AntwortenLöschen
  5. >> "Ich persönlich bin skeptisch geworden gegenüber den journalistischen Möglichkeiten im Internet. Das Gerede um die Möglichkeiten des Citizen Journalism begreife ich nicht."

    Das heisst übersetzt wohl nichts anderes als: "Macht Arbeit und rechnet sich nicht."

    User Generated Content interessiert nur insofern, als dass er Klicks und Verweildauer auf der Seite bringt, was man dann Werbebanner-Schaltern schmackhaft machen kann. Das hat wohl nicht so geklappt wie erhofft, also weg damit.
    Wen interessieren schon Inhalte?

    AntwortenLöschen
  6. Die Artikel mit Kommentaren abzurunden fand ich so was von innovativ, denn wenn halt mal einer seinen Kommentar strunz frech daher rotzte, so fand sich doch meistens umgehend ein tiefgründiger Kritiker, der diesen unüberlegten Erguss mit ausgewählten Worten und fundiertem Wissen wieder gleich wieder ins Abseits bugsierte.

    Schade um die investierte Zeit und Arbeit einiger wirklich guten Kommentatoren!

    AntwortenLöschen

Bitte keine unnetten Kommentare. Die werden hier gelöscht. Danke.